Mitscherlich ist überall – Irrtum oder ein Denkanstoß ?

O. Nestroy, Institut für Angewandte Geowissenschaften an der Technischen Universität Graz
Die vorangegangene Präsentationen über das Leben und Wirken von Professor Max Eilhard Alfred Mitscherlich in russischer Originalfassung und in deutscher Übersetzung war für den Korrektor ein Denkanstoß, die genialen und in mathematische Formeln gefassten Erkenntnisse von E. A. Mitscherlich weiter zu verfolgen und in das gegenwärtige Alltagsleben zu projizieren. In diesem Epilog soll, basierend auf dieser Präsentation und deshalb von pflanzenphysiologischen Parametern ausgehend, in einem weiteren Schritt die Gültigkeit wie Aktualität des Mitscherlich-Gesetzes im Alltag der Hochleistungsgesellschaften in den Industriestaaten wie auch in Entwicklungsländern aufgezeigt werden. Nach Auffassung des Autors ist der Brückenschlag von den aus der Bodenkunde und dem Pflanzenbau abgeleiteten Erkenntnissen von E. A. Mitscherlich zur Gegenwart nicht so schwierig, wie es vielleicht im ersten Moment den Anschein haben könnte. An einigen aus dem pulsierenden Leben gegriffenen Beispielen soll dieser „Grenzübertritt“ eines Naturgesetzes zur Nationalökonomie erläutert werden. Zwei Passagen aus der vorangegangen Präsentation sollen dies erleichtern. Zuerst der Hinweis, dass die Ergebnisse seiner (Mitscherlichs) Forschungen bis heute „nicht an Relevanz verloren haben“, sowie, dass das Gesetz ein „Grundgesetz des Lebens“ darstellt und „eines der Gesetze der Landwirtschaft und der Ökologie [dar], nach dem sich alle lebenden Systeme auf verschiedenen Ebenen ihrer Organisation orientieren“. Diese Zitate, entnommen aus dem oben erwähnten Aufsatz über E. A. Mitscherlich, waren für eine nähere Befassung mit den von Mitscherlich erkannten Gesetzmäßigkeiten und zugleich Anregung, anhand von einigen Beispielen aus dem heutigen Alltag diesen nachzuspüren. Zunächst aber zurück zu den Wurzeln und zum „Wirkungsgesetz der Wachstumsfaktoren“ von E. A. Mitscherlich. Als Anregung für die Untersuchungen der „inneren Wachstumsfaktoren der Pflanze“ dienten E. A. Mitscherlich die Erkenntnisse von Gregor Mendel bezüglich einer Kreuzung verschiedener Individuen und deren Aufspaltung nach dominierenden und rezessiven Eigenschaften sowie Bastarden. Er übertrug diese Prozentsätze auf die Ertragszunahme bei Erhöhung eines Wachstumsfaktors (E. A. Mitscherlich, 1948). Dies ergibt eine logarithmische Funktion als „ein allgemeines Naturgesetz, welches überall da in Erscheinung treten dürfte, wo sich eine Größe ‚y‘ ganz allmählich mit der Steigerung einer Größe ‚x‘ einem endliche Höchstwerte nähert “ (E. A. Mitscherlich, 1954). E. A. Mitscherlich fasste das Wirkungsgesetz der Wachstumsfaktoren in die Formel

log (A – y) = log A – c (x + b),

wobei A den Höchstertrag, b die bereits im Boden vorhandene Nährstoffmenge, c der Wirkungsfaktor (= Wirkungswert) des betreffenden Wachstumsfaktor bzw. Nährstoffes, x die als Düngung verabreichte Menge und y den gegenwärtigen Ertrag bezeichnet. Daraus kann abgeleitet werden, „dass nämlich die durch die Steigerung eines Wachstumsfaktors herbeigeführte Ertragssteigerung dem an einem Höchstertrage fehlenden Ertrag proportional geht. Daran ist klar zu erkennen, dass der Ertragszuwachs immer geringer werden muss, je größere Mengen von x bereits vorliegen“ (E. A. Mitscherlich, 1954). Im Idealfall sind damit die Zuwächse der ersten Einheit eines Wachstumsfaktors 50 % des möglichen Höchstertrages, jedoch bei der zweiten Einheit nur mehr 25 %, bei der dritten 12,5 %, bei der vierten 6,25 % und bei der fünften 3,125 %: Die Zuwächse nehmen bei Annäherung an den jeweiligen Höchstertrag deutlich ab. Es darf nicht unerwähnt bleiben, dass schon E. A. Mitscherlich zu seinem Bedauern erkennen musste, dass von den Nationalökonomen, die sich mit diesem Gesetz auseinandersetzten, fälschlich diese Fakten als „Gesetz des abnehmenden Bodenertrages“ bezeichnet wurden, und nicht als „Gesetz der abnehmenden Ertragssteigerung“ (E. A. Mitscherlich, 1948). Zur thematischen Einstimmung sollen die folgenden Beispiele beitragen.

Beispiel Nr. 1
Nahezu jede gesunde Person ist vor allem in jugendlichen Jahren imstande, eine angemessene Teststecke in einer bestimmten Zeit laufend zurückzulegen. Je nach der allgemeinen körperlichen Verfassung und einigem Trainingsstunden wird es entsprechend der aufgewendeten Zeit und der Intensität dieser Vorbereitungen gelingen, in einer immer kürzerer Zeit diese vorgegebene Wegstrecke zurück zu legen, wobei die Höhe der anfänglichen Erfolge bei den weiteren Trainingsstunden nicht mehr so deutlich ausfällt. Für Spitzenzeiten bei olympischen Bewerben oder bei einem vollen Marathon benötigt jeder Sportler jedoch einen bedeutend höheren Aufwand an Training, Ausdauer und Geduld, um einen geringen Zeitgewinn heraus zu holen. Schließlich kann durch einen enorm gesteigerten Trainingsaufwand nur mehr ein ganz geringer Zeitgewinn erzielt werden. Der erste Marathonläufer, der Im Herbst 2019 in Wien zum ersten Mal die Zwei-Stunden-Marke für einen Vollmarathon (42,195 km) unterbot, hat für diesen Lauf jahrelang mental wie physisch hart trainiert.

Beispiel Nr. 2
Ein Gefühl für Rhythmus und Interpretation wie auch gewisses gesangliches Können ist fast jedem Menschen gegeben. Um aber in die hohen Sphären einer vollendeten Gesangskunst zu gelangen, bedarf es neben Talent und einer fundierten Ausbildung auch eines Übens von mehreren Stunden pro Tag. Nur Wenigen ist es trotzdem vergönnt, die höchsten Stufen künstlerischen Schaffens zu erreichen, und dies nur dank eines sehr hohen Aufwands, wie ständiges und intensiven Üben unter der Leitung hervorragender Musikpädagogen.

Beispiel Nr. 3
Im Zeitalter des Automobils ist in den Industriestaaten fast jeder Bürger im Besitz eines Führerscheins und fährt auch Auto. Wie gut oder wie schlecht der Einzelne fährt, soll hier nur zur Diskussion gestellt werden, jedoch der steile, anstrengende und auch kostspielige Weg von einem Durchschnittsautofahrer zu einem Platz einem Cockpit eines Formel- 1-Autos, den nur sehr wenige Personen erreichen. Hier sind alle physischen wie psychischen Fähigkeiten des Piloten gefordert. Wenn man das Training vor jedem Grand-Prix-Lauf verfolgt, erkennt man neben der Hochtechnologie eines Autos auch den enorm gesteigerten Aufwand für die Erzielung einer (noch) höheren Geschwindigkeit. Es wäre eine interessante Studie, zu berechnen, wie teuer der Gewinn von einer Sekunde pro Runde insgesamt zu Buche schlägt, namentlich, wenn es sich bei Spitzenteams um Gewinne von Zehntel- oder Hundertstelsekunden handelt.

Beispiel Nr. 4
Deutlich ist das Mitscherlich-Gesetz bei Pionierprojekten wie auch -arbeiten jedweder Art zu erkennen. Am Anfang wird die Anfangsstufen eines Vorhabens durch den vom Pioniergeist erfassen Personen rasch überwunden und durch die Anfangserfolge fast übersprungen. Doch bald nimmt der Elan der ersten Stunden ab, da man erkennen muss, dass der Mehrertrag pro Aufwandseinheit geringer wird und nicht mehr so deutlich zu erkennen ist. Als eine Folge davon nimmt auch die Lust nach weiterem Engagement ab. Diese Situation tritt vielfach dort auf, wo von einem geringen Ausgangsniveau ausgegangen wurde. In diesem Zusammenhang ist eine weitere Bestätigung des Gesetzes von A. E. Mitscherlich bei den Angaben von Erträgen und vor allem Ertragszuwächsen zu erwähnten. Es muß vor allem beachtet werden, von welchem (Ertrags-)Niveau die Zuwachsraten ausgewiesen werden. Falls ein sehr niedriges Ausgangsniveau die Basis ist, dann sollten hohe Zuwachstraten keine Überraschung sein. Liegt jedoch schon ein hohes Ausgangsniveau vor, dann dokumentieren oft schon geringe Zuwachsraten einen hohen Aufwand, verbunden mit hoher Produktivität. Diese Fakten sollten vor allem bei Vergleichen der Zuwachsraten in jeder Branche von Industrieländer und Entwicklungsländern berücksichtigt werden.

Beispiel Nr. 5
Ein beachtenswerter Beitrag zur Frage der Maximierung findet sich in der Rezension über einen Vortrag, den A. Haiger mit dem Titel „Die Natur optimiert, der Mensch Maximiert“ gehalten hat (A. Burgstaller, 2020). Die Kernaussagen von A. Haiger beginnen bei der Frage, weshalb eine Kuh, die 12000 Liter Milch pro Jahr liefert und dafür 3000 kg Lebensmittel gefressen hat, prämiert wird, da die Rentabilität der Kuh von der maximalen Milchleistung mit hoher Energiedichte je Laktation gemessen wird, die Nutzungsdauer jedoch nur von untergeordneter Bedeutung ist. Diese liegt bei einer Kuh in Österreich bei durchschnittlich 3,8 Jahren. Weiter wird durch den Anreiz, hohe Laktationsleistungen mit hoher Energiedichte zu erzielen – das heißt mit dem Einsatz von (oft aus Übersee importiertem) Kraftfutter zu produzieren –, die natürliche Nahrungsquelle Gras verdrängt und damit eine Nahrungsmittelkonkurrenz zum Menschen aufgebaut. Es ist zu hinterfragen, ob und wie in Zukunft rund 10 Milliarden Menschen und Kühe, die 2000 bis 3000 kg pro Jahr Getreide fressen, ernährt werden können. Wäre es nicht zukunftweisend – so das Schlussstatement von A. Haiger –, anstelle einer Kuh mit 8000 l Milch pro Jahr und sechs Kälbern als Maximum ein Optimum von acht Kälbern bei einer Jahresleistung von 6000 l Milch pro Jahr in der Tierzucht wie -haltung anzustreben?

Wir leben in einer Zeit, in der bei gewissen Sparten (nur) Perfektionismus gefragt, verlangt und auch (entsprechend hoch) bezahlt wird. Überlegungen, nicht das Maximum durch enormen Aufwand anzustreben, sondern sich nur mit einem Optimum bei einem vertretbaren Aufwand sich zufrieden zu geben („In der Beherrschung zeigt sich der Meister“), finden kaum Gehör, noch weniger Anwendung. Als exzessive Steigerung, einen neuen Höchstertrag (= „gesteigerte“ Höchstleistung) zu erreichen, dient oft der Griff nach Dopingmittel, dessen Nebenwirkungen in der Regel verschwiegen werden und man nur auf vage Hinweise im Laufe von Untersuchungen bei (den wenigen) aufgedeckten Fällen angewiesen ist. Ist nicht selten einer außer Kontrolle geratenen Leistungsspirale ein Burnout die logische Folge? Basieren nicht alle diese vom Menschen initiierten Aktivitäten und deren Ergebnisse auf dem Gesetz vom abnehmenden Mehrertrag von E. A. Mitscherlich – oder sollte dies ein Irrtum sein? Vielleicht ist es dem Verfasser dieser Zeilen gelungen, nicht nur die genialen Erkenntnisse in von E. A. Mitscherlich wiederum in Erinnerung zu rufen, sondern diese neu und auch erweitert zu interpretieren. Sie könnten ein Umdenken in unsern alltäglichen Handlungen einleiten.

Literatur
Burgstaller, A. (2020): Die Natur optimiert, der Mensch maximiert. Blick ins Land, Nr. 1, Jänner 2020, Wien.
Mitscherlich, E. A. (1948): Die Ertragsgesetze. Deutsche Akademie der Wissenschaften zu Berlin, Vorträge und Schriften, H. 31, Akademie-Verlang, Berlin.
Mitscherlich, E. A. (1954): Bodenkunde für Landwirte, Forstwirte und Gärtner in pflanzenphysiologischer Ausrichtung und Auswertung. Verl. P. Parey, Berlin und Hamburg.